Three Attempts to Avoid the Inevitable
Vittorio Santoro
Les Complices, Anwandstrasse 9
8004 Zürich
Bis 28. Juni 2008
Birgit Fritsch Auf der Strasse herrscht ein Höllenlärm, aufgekratzte Fussballfans und Polizisten drängen sich am Helvetiaplatz, ansonsten wirkt die Stadt wie ausgestorben. Euro 08 und alle kleben an den Bildschirmen. Auf mich wartet hingegen ein Galeriebesuch als Insel der Ruhe. Die zwei Schaufenster bei Les Complices verheissen bereits eine willkommene Abkühlung. Je ein grosser silberner Standventilator steht da, die Ventilatorköpfe drehen sich gelassen hin und her in Richtung Ausstellungsraum. Dieser ist frei gehalten, lediglich mehrere kleine Lautsprecher sind in verschiedenen Höhen diskret an den Wänden befestigt.
Vittorio Santoro, You Are Still Here, Assisted Version, 2008 (Ausschnitt). Fotografie Birgit Fritsch.
Eine tiefe Männerstimme, von einer Art Meeresrauschen begleitet, spricht schnell einen kurzen, unverständlichen Satz, dann folgt wieder Stille. Die rhythmische Wiederholung des Satzes, das Schwenken der Ventilatoren und das seltsame Rauschen lassen mich an Ferien und Sommer denken. Doch eine leichte Beunruhigung schleicht sich ein: wer redet hier und weshalb kann ich den Satz nie genau verstehen? Es klingt wie eine verkürzte Version des Titels der Soundinstallation, You Are Still Here.
Der Blick in das Schaufenster überrascht. Je dunkler es draussen wird, umso stärker wird der Innenraum in der Aussenscheibe gespiegelt. Die ins Schaufenster geklebte Spionspiegelfolie, gleicht nun einem silbernen Spiegel, in dem ich selbst, die Ventilatoren und die Neonröhren reflektiert werden. Die Strasse, die ganze Stadt löst sich auf und mein Blick wird zurückgeworfen in die Ausstellung. Ich beobachte mich, wie ich die Ventilatoren beobachte. Mein Zeitgefühl verschwimmt zunehmend in dieser meditativen, hypnotischen Arbeit- tatsächlich: I’m still here.
An der Seitenwand zwischen den Lautsprechern des Raums hängt das Textbild To Be Eloquent At The Use Of Silence. Vittorio Santoro nimmt als Ausgangspunkt seiner Werke einzelne Sätze aus Filmen, Büchern oder Songtexten auf, die er auf nachdenkliche, hintergründige Weise bearbeitet. Auf einem grossformatigen, weissen Bogen Papier schrieb Santoro während fünf Monaten täglich, in die Spuren des vorangegangenen Tages, mit Bleistift den Satz To Be Eloquent At The Use Of Silence.
Vittorio Santoro, To Be Eloquent At The Use Of Silence, January – May 2008. Fotografie Birgit Fritsch.
Gebetsmühlenartig wiederholt Santoro diese Worte, er ritzt den Satz in das Papier, sein eigenes Bewusstsein und das Bewusstsein der Betrachtenden ein. Die Worte beissen sich im Gedächtnis fest, ich wiederhole sie rhythmisch in meinen Gedanken. Santoro überlässt es jedem einzelnen, in welche Richtung er die Worte weiterdenkt. Die aufgeworfenen Fragen sind Antwort genug.
Vittorio Santoro, To Be Eloquent At The Use Of Silence, January – May 2008 (Ausschnitt). Fotografie Birgit Fritsch.
Im kleinen angrenzenden Raum ist Santoros faszinierende Videoinstallation Discrepancy II zu sehen. Zwei kleine Projektionsflächen, mit Maschendrahtzaun bespannt, stehen wie übers Eck am Boden. Beamer werfen zweimal einen gleich langen Film auf die Flächen, der durch die Abgrenzung des Maschendrahtzauns gesehen werden kann.
Vittorio Santoro, Discrepancy II, 2004 (Ausschnitt Videostill). Fotografie Birgit Fritsch.
In beiden Loops folgt die Kamera einem weissen Blatt Papier, das in poetischer Leichtigkeit von sanften Windstössen über einen kiesigen Waldboden getrieben wird. Die Szene wirkt vertraut, das bewegte Blatt lockt immer weiter über den Waldboden. Plötzlich wendet sich das Blatt und ein aufgeklebter Streifen Papier mit Schreibmaschinenschrift wird sichtbar. SOMEWHERE BETTER THAN THIS PLACE heisst es auf dem einen Blatt und nun wendet sich auch das andere Blatt und der Satz NOWHERE BETTER THAN THIS PLACE wird sichtbar. Die beiden Aussagen verwirren und heben sich gegenseitig in ihrer Bedeutung auf. Gebannt beobachte ich weiter das Blatt und den Waldweg, hoffe auf neue plötzlich auftauchende Sätze und rätsle über dieses „hier“- THIS PLACE.
Vittorio Santoro, Discrepancy II, 2004 (Ausschnitt Videostill). Fotografie Birgit Fritsch.
Am Ende des Loops schwenkt die Kamera auf je eine Zeitungstitelseite, links The New York Times, rechts NZZ, beide vom 6. Oktober 2000. Die Schlagzeilen der beiden renommierten Zeitungen zeigen, wie über dasselbe Ereignis unterschiedlich berichtet werden kann. Die Akzentverschiebung zwischen der triumphierenden Schlagzeile „Yugoslavs Claim Belgrade for a New Leader“ und der dramatisch wirkenden Schlagzeile „Die Opposition stürmt Parlament und Staatsfernsehen in Belgrad“ mag so minimal sein wie das Vertauschen der Buchstaben von NOWHERE zu SOMEWHERE, doch in beiden Fällen wird eindrücklich auf die Zwischentöne und Uneinheitlichkeiten bei Berichterstattung und persönlicher Erinnerung hingewiesen. Santoro sprengt in seinen Arbeiten den Wahrheitsanspruch des geschriebenen Wortes. Es gelingt ihm, die Macht und Grenzen der Worte auszuloten und unser blindes Vertrauen auf das geschriebene Wort gehörig durchzurütteln. Dieser Zweifel am Wahrheitsgehalt des geschriebenen oder gesprochenen Wortes wird somit zum eigentlichen Thema seiner Werke. Die Sätze SOMEWHERE / NOWHERE BETTER THAN THIS PLACE und To Be Eloquent At The Use Of Silence begleiten mich in meinen Gedanken lange weiter, wie ein noch ungelöstes Rätsel.
hmm..
Zu den ersten Sätzen habe ich noch ein kleines Vid gemacht..
http://vimeo.com/1206928
gruss
danny
super text – triffts genau!
danke für den tipp, war ’ne tolle ausstellung.
gruss
steve